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Titel
Michael Tangl (1861-1921) und seine Schule. Forschung und Lehre in den Historischen Hilfswissenschaften


Autor(en)
Schaller, Annkatrin
Reihe
Pallas Athene 7
Erschienen
Stuttgart 2002: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
386 S.
Preis
€ 68,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stephanie Irrgang, Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin

Nur wenigen sagt der Name Michael Tangl spontan etwas. Er schuf kein epochales Monumentalwerk oder kann mit einem generell umfangreichen Oeuvre aufwarten. Immerhin werden die meisten noch seinen Namen mit der Echtheitsdiskussion um das 1156 ausgestellte Privilegium Minus oder mit seinen Studien zum Heiligen Bonifatius in Verbindung bringen. Tangl, der ein Schüler von Theodor von Sickel und Engelbert Mühlbacher war, blieb ein „Einzelkämpfer“ (S. 299), obwohl er bis in die Zentraldirektion der MGH aufstieg und 1897 einen Ruf an die Friedrich-Wilhelms-Universität nach Berlin erhielt, wo er Historische Hilfswissenschaften lehrte und sich um die Verbindung von Universitäts- und Archivarausbildung verdient machte. In der Lehre konnte er richtungweisende Impulse geben. Eine große Zahl von späteren Monumenta-Mitarbeitern, Archivaren und Professoren sind durch seine diplomatische Schule gegangen.

Annekatrin Schaller hat diesem Wissenschaftler nun in ihrer Berliner Dissertation eine umfangreiche Biografie gewidmet, die weniger methodisch, aber chronologisch, biografisch und wissenschaftsgeschichtlich Leben und Wirken Michael Tangls in den Blick nimmt. Dabei konnte die Autorin keineswegs aus einer reichhaltigen Quellenüberlieferung schöpfen. Ein Nachlass des Gelehrten ist nicht bekannt. Vielmehr dienten seine wissenschaftlichen Werke, Vorlesungsverzeichnisse und versprengte Einzelbelege wie die durchaus autobiografisch gehaltene Antrittsvorlesung vor der Berliner Akademie der Wissenschaften 1918, Akten des Wiener Universitätsarchivs, Korrespondenzen im Institut für Österreichische Geschichtsforschung in Wien oder Akten des Marburger Staatsarchivs als Grundlage.

Tangl war Kärntner und die Verbundenheit mit seiner österreichischen Heimat blieb auch ein Leitmotiv seiner Biografie. Obgleich er nicht wie z.B. der spätere Jenaer Professor Alexander Cartellieri im großbürgerlichen, weltläufigen Milieu aufwuchs, gelangte Tangl auf Empfehlung und mit Stipendienhilfe an das Wiener Schottengymnasium, wo er 1880 sein Abitur bestand und sich Zutritt in die Wiener Gesellschaft verschaffte. Man hatte seine Begabung und sein Interesse für Urkunden und Handschriften auf dem Gymnasium beim Benediktinerkloster St. Paul früh erkannt. Nachdem Tangl zunächst die Absicht verfolgt hatte, Rechtswissenschaften zu studieren, wechselte er kurze Zeit später an der Wiener Universität zu den Fächern Geschichte, Geographie und Germanistik. Seinen wichtigsten methodischen Schliff erhielt er in den Jahren 1885-1887 im Institut für Österreichische Geschichtsforschung, wo er wie viele begabte österreichische Historiker in die historisch-kritische Methode der Diplomatik unterwiesen wurde; das Examen bestand er 1887. Es folgte ein Aufenthalt am Österreichischen Historischen Institut in Rom, das gerade erst auf Initiative Theodor von Sickels gegründet worden war. Die dort begonnene Erforschung des päpstlichen Kanzleiwesens, die 1889 in seiner Promotion über das Taxwesen der päpstlichen Kanzlei vorläufig abgerundet wurde, sollte Tangl ein ganzes Leben beschäftigen und in zahlreichen Veröffentlichungen und Editionen Niederschlag finden. Im Anschluss an die Zeit in Rom wurde er zunächst Verwaltungsarchivar im österreichischen Innen- und Finanzministerium. Parallel arbeitete er an einer Habilitation bei Engelbert Mühlbacher und begann schließlich als Privatdozent an der Wiener Universität Diplomatik zu lehren.

1892 konnte Tangl gemeinsam mit Engelbert Mühlbacher und Alfons Dopsch die bereits in Rom hergestellten Kontakte zur MGH nutzen für eine Mitarbeit in der Diplomata Abteilung an den Urkunden der Karolingerzeit. Er begab sich auf ausgedehnte Archivreisen durch Europa. 1895 erhielt er endlich einen Ruf nach Marburg als Professor für Historische Hilfswissenschaften. Der Höhepunkt seiner Laufbahn war zweifelsohne jedoch die Berufung auf den Lehrstuhl an der Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin, den er ab 1897 bekleidete und wo er im Kreise einflussreicher Kollegen wie Paul Scheffer-Boichorst oder Hans Delbrück Diplomatik und Paläographie unterrichtete und eine riesige Faksimilesammlung aufbauen konnte. Seit der Verlegung der Archivprüfungskommission von Marburg nach Berlin 1907 konnte sich Tangl als Lehrer voll entfalten. Nahezu 200 Dissertationen hat er als Erst- oder Zweitgutachter betreut. Die Lehre akzentuiert Schaller auch als Tangls bedeutendstes Verdienst. Aus seiner Schule sind so namhafte Gelehrte wie Edmund E. Stengel, Ernst Perels, Peter Rassow, Camille Wampach oder Bernhard Schmeidler hervorgegangen. Darüber hinaus gelangte Michael Tangl auch in die Zentraldirektion der MGH, übernahm die Leitung der Karolinger- und Epistolae-Unternehmen und wurde Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Er starb „kriegsnervös“ (S. 270) 1921.

Neben der Skizzierung der Tanglschen Forschungsschwerpunkte (Karolinger Urkunden, Tironische Noten, Placita, Fuldaer Urkunden, Kanzleigeschichte) ist es ein Verdienst Schallers, wissenschaftsgeschichtliche Aspekte in die Arbeit einzubeziehen. Detailliert schildert sie die Geschichte der historischen Forschungsinstitute in Wien und Rom, Stand und Strukturen der Historischen Hilfswissenschaften in Marburg und Berlin sowie vor allem die Entwicklung der MGH. Breiten Raum nehmen die finanziellen, personalpolitischen und kriegsbedingten Krisen der MGH ein, die sich in Tangls Biografie widerspiegeln. Dazu gehören auch Anfeindungen von Seiten der MGH, denen er ausgesetzt war, weil er mit den administrativen Pflichten völlig überfordert war. Ebenso auf den Stellenwert und die Rezeption der mittelalterlichen Geschichte an der Berliner Universität um die Jahrhundertwende geht Schaller ein.

Michael Tangl hat bei seinen Zeitgenossen keinen großen Eindruck hinterlassen. Sein Oeuvre weist in erster Linie Spezialstudien auf wie z.B. zur Tachygraphie, das heißt die Entschlüsselung und Erforschung der Tironischen Noten, wofür er durchaus in Fachkreisen geschätzt wurde, da kaum jemand je die Geheimnisse dieser merowingischen und karolingischen „Krakelfüße“ (S. 131) entwirren konnte. Tangl arbeitete mit der Methode, zunächst exakt die inneren und äußeren Merkmale von Urkunden zu beschreiben, bevor der historische Kontext der Entstehung von Schriftgut dargestellt wurde. Diese spröde Akribie führte jedoch dazu, dass sein wissenschaftliches Werk wenig problematisierend in der Analyse oder gar originell im Urteil ist. Die großen Interpretationsansätze sind nicht erkennbar. In der Vermittlung der österreichischen Diplomatik in Deutschland kommt Tangl aber eine Schlüsselrolle zu.

Annekatrin Schaller gelingt es, Tangl in ein verdient positiveres Licht zu rücken. Dabei gibt auch sie zu, dass sich seine Wirkung am stärksten über den großen Schülerkreis und kaum über seine akribischen diplomatischen Arbeiten manifestiert hat. Der Arbeit sind recht ausführliche Biografien aller seiner Schüler angehängt sowie eine Liste mit sämtlichen Namen derer, bei denen Tangl als Zweitgutachter fungiert hat. Schaller gelingt ebenso, den Menschen Michael Tangl vorzustellen, seine Heimatverbundenheit, die persönlichen Krisen während des Ersten Weltkriegs, sein Ehe- und Familienleben mit der Opernsängerin Georgine Nüchtern, seine Sangesfreude, die unpolitische Einstellung und seine Existenzängste. Eine größere geistes-, ideen- und sozialgeschichtliche Einordnung des Wirkens Michael Tangls nimmt die Verfasserin bedauerlicherweise aber nicht vor.

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